Wutblind ↗
Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 2 «Mesokarp»
((Caro)) Ich wette, das Arschloch heisst Kevin. So sieht er aus. Wie ein selbstgefälliger, ignoranter Arsch mit Namen Kevin. Er hebt mit einer Hand einen Snowboardschuh vom Boden auf und streicht sich mit der anderen eine Haarsträhne hinters Ohr. Dann sieht er mich. Schneidet eine Fratze, zeigt mir beinahe demonstrativ die Zähne. Dreissig Leute stehen dicht an dicht in der Gondel. Eltern mit Kindern, ein paar Rentner, und genau neben uns befindet sich die Gruppe Zwanzigjähriger, die, obwohl gut fünf Jahre zu alt, tief in ihrer Fuck-the-System-Phase steckt und dieser nun durch Maskenverweigerung Ausdruck verleiht. Was unter anderen Umständen eine harmlose Pseudorebellion wäre, wird vor dem Hintergrund der Pandemie zum potentiellen Superspreader.
Aber das ist Kevin egal. Kevin interessiert sich nur für Kevin. Er lacht gerade entschieden zu laut über die mässig lustige Aussage eines Kumpanen, der zwar eine Maske trägt, diese aber unten am Kinn. Der Fahrer steht derweil teilnahmslos vor seiner Konsole, kehrt uns den Rücken zu, und auch die anderen Fahrgäste sind offenbar der Überzeugung, dass eine Infektion umgeht, wer die testosterongesteuerten Arschlöcher nur konzentriert genug ignoriert. Kevin weiss, dass niemand was sagen wird. Dass ich, darum bemüht, die Situation nicht eskalieren zu lassen, nichts tun kann, als hier zu stehen, in dieser verfickten Metallkiste, und zu hoffen, dass sie nicht bald von einer Hölzernen abgelöst wird.
Wutblind ↗
Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 1 «Exokarp»
((Pit)) Um exakt 6:30 Uhr drückt mir Chica ihre nasse Schnauze ins Gesicht. Sie winselt leise, als wüsste sie, dass die anderen Hunde noch schlafen. Indy liegt in einer braunen Hundehöhle aus Filz, den dünnen Schwanz wie einen Zensurbalken über die Augen gelegt. Der weisse Pudel mit Namen Sansibar hat sich am Fussende meines Bettes zusammengerollt und der junge Jack Russel Terrier, der noch nicht richtig sozialisiert ist, pisst gerade an den Esstisch.
Lass das! Rufe ich und werfe ein Stofftier in seine Richtung. Das Tier, es ist ein unpräzise ausgestaltetes Schaf, das eher einer Wolke mit Beinen ähnelt, quietscht, als es gegen den Tisch knallt. Der Hund wiederum missversteht den Abschreckungsversuch als Spiel, packt das Wolkenschaf beim Kragen, schüttelt es ordentlich und bis es tot ist.
Ich strecke mich durch, die Matratze im Hundehort ist durchgelegen, und das ist mein dritter Nachtdienst in Folge. Meine Schultern sind vom Bett, aber auch vom vielen Radfahren verspannt, und ich überlege, nächsten Monat beim Velokurier weniger Schichten anzunehmen. Sowieso stehen grössere Prüfungen an. Und meine Bachelorarbeit habe ich weder fertig noch angefangen. Ich wische die Pisse mit dem Mob auf und öffne den Hunden die Tür zum Garten, während in der Küche der Kaffee kocht. Chica pinkelt gleich neben dem Haus an einen Baum. Sansibar gräbt den Garten um. Das Loch-Projekt, das er letzte Woche gestartet hat, kommt gut voran. Der Hund verschwindet beim Graben bereits ganz im Boden. Ich höre die Besitzerin schon meckern, weil sie ihn gestern erst im Hundesalon zum Haareföhnen gebracht hat oder Ähnliches. Ich fülle frisches Wasser in die Trinkschalen, die Näpfe der Vierbeiner mit ihrem Futter. Nur Indy darf nicht mit den anderen frühstücken, da er ausschliesslich beim Training mit Ines aus seinem Futterbeutel Essen erhält. Aus Mitleid kriegt er einen seiner CBD-Kekse. Auch dem Pudel mische ich zwei Hanf-Kekse ins Fressen und hoffe, dass er nach dem Verzehr zu high ist, um weiter zu graben. Dann fällt mir ein, dass der Kaffee seit zehn Minuten vor sich hin kocht.
Ich sehe Ines dabei zu, wie sie einmal mehr direkt vor dem Eingang des Hundehorts parkt. Streng genommen ist dort kein Parkplatz, sondern Warenumschlag. Die gelben Markierungen am Boden sind gut sichtbar. Ines sieht müde aus, müder als sonst. Abgekämpft, mit dunklen Schatten unter den blauen Augen, steht sie vor dem Tresen. Ich reiche ihr die Hundetasche, stelle eine Tasse Kaffee vor sie hin.
Frisch gebrüht! Sage ich breit grinsend. Ich fühle mich etwas lächerlich, wie ich so da stehe, im abgetragenen Pullover und den dreckigen Jeans.
Indy sitzt bereits vor Ines Füssen, still und mit viel zu gerader Postur. Überhaupt ist dieser Hund zu gut erzogen. Weicht Ines nicht von der Seite und befolgt Befehle, die sie nie ausgesprochen hat. Ein schönes Tier. Braun gestromter Windhund aus Spanien. Ines macht eine Grimasse beim ersten Schluck Kaffee.
Der ist dir verbrannt. Sie lacht, schiebt mir die Tasse hin.
Gut, bis übermorgen, sagt sie. Ich nicke eifrig und frage:
Um fünf? Obwohl ich die Uhrzeit der Reservationsliste entnehmen kann und sie ist schon zur Tür raus, als sie noch sagt:
Genau!
Meine Ohren werden heiss, auch meine Wangen. Ehe ich darüber nachdenken kann, was das bedeuten mag, wird auch mein Bein warm, weil der Terrier gerade dran pinkelt.
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Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 1 «Exokarp»
((Leni)) Wie lange wir wohl schon vor dem Grab sitzen? Und es regnet und regnet. Wenn’s nur nicht so kalt wäre. Estelle stupst mich jetzt zum dritten Mal an. Zeit zu gehen. Ich löse mich aus Caros Umarmung. Sie weint, also küsse ich sie auf die Stirn. Um mich vom Boden hoch zu stemmen, brauche ich beide Hände und mehr Zeit, als mir lieb ist. Den Sack mit den weissen Kieselsteinen lasse ich vor dem Eingang zum Friedhof stehen und auch die restliche Erde. Ich habe keine Verwendung mehr dafür. Meine Knie schmerzen, die Zehen, wenn sie auch trocken sind in den Gummistiefeln, spüre ich ob der Kälte kaum mehr.
Zuhause kocht Caro Tee, während ich Estelle mit dem Hundehandtuch trocken rubble. Der Hund wirft sich zufrieden auf den Rücken und streckt mir den weissen Bauch entgegen, den ich noch abrubbeln muss, als er schon längst trocken ist. Als Estelle noch klein war, habe ich sie ganz ins Handtuch eingewickelt und ihr dabei zugesehen, wie sie sich Kopf voran wieder herausgewunden hat.
Caro bringt Kamillentee in die Stube. Im Ofen knistert das Feuer, und ich halte mich an meiner Tasse fest, als wäre sie ein Anker. Die Kälte weicht langsam aus meinen Knochen, nicht zuletzt dank Estelle, die auf meinen Füssen Bettflasche spielt. Walter hat den Welpen vor zwölf Jahren an einem ganz normalen Dienstag auf den Küchentisch gesetzt. Neben den kleingewürfelten Sellerie. Was es zum Znacht gibt, hat er gefragt und sich ein Glas Wein eingeschenkt.
Walter tat nie, was ich erwartet habe, und selten, was er versprochen hat. Trotzdem war der Herzinfarkt mit dreiundsechzig ein ungerechtes Schicksal. Nicht, dass ich ans Schicksal glaube oder an Gerechtigkeit.
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Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 1 «Exokarp»
((Caro)) Mit dem Fahrrad ist die Strecke zum Inselspital in unter zehn Minuten zu bewältigen. Unsere WG liegt hinter dem Zähringer-Migros in der Berchtoldstrasse, von da aus fahre ich einmal quer durch die Länggasse, der Bühlstrasse entlang und bis zum Inselplatz. Genau hier bin ich vor zwei Jahren durch die Fahrprüfung geflogen, weil ich beim Linksabbiegen die rote Ampel übersehen und beinahe zwei Fussgänger überfahren habe. Die Ampel schaltet auf Grün, und ich entdecke den roten Mini zu spät, der vom Spital her kommt und links Richtung Güterbahnhof abbiegt. Das Auto erwischt mein Vorderrad, der Lenker dreht sich abrupt zur Seite, das ganze Fahrrad. Die Wucht des Aufpralls katapultiert mich aus dem Sattel. Ich weiss jetzt, wie sich einer fühlt, der als Zirkusattraktionen aus einer Kanone geschossen wird, und lande, begleitet von einem dumpfen Knall, auf der Motorhaube des Minis. Für eine Sekunde friert die Zeit ein. Ich warte auf den Applaus, die Nummer war immerhin gefährlich, wage nicht zu atmen und nicht die Augen zu öffnen. Dann höre ich die Autotür zuschlagen, spüre eine Hand auf meiner Schulter.
Alles in Ordnung? Bist du verletzt? Vor mir eine Frau Mitte dreissig, adrett mit Blazer und streng im Nacken geknotetem Haar.
Hab dich einfach nicht gesehen. Sagt die Frau. Ich betaste die schmerzende Stelle an meinem Hinterkopf und den linken Ellenbogen. Setze mich auf und bewege versuchshalber Arme und Beine. Das linke Knie schmerzt, die ganze linke Körperseite.
Nichts passiert, stelle ich fest und rutsche vorsichtig von der Motorhaube.
Vom Strassenrand aus beobachten uns Schaulustige. Der Verkehr bewegt sich weiter. Wer geradeaus fährt, kommt problemlos am Mini vorbei, wer abbiegt, macht einen Bogen.
Ich bin Ärztin, sagt die Frau und legt sanft aber bestimmt beide Hände an meinen Kopf. Sie sieht sich Augen, Nase und Ohren an. Tastet meinen Hals ab, die Schultern, den Bauch. Dabei fragt sie mich, ob ich Schmerzen habe, will meinen Namen wissen, mein Alter. Ich zucke zusammen, als sie meine Rippen berührt.
Deine Rippen sind geprellt, sagt sie.
Solltest du in den nächsten vierundzwanzig Stunden Kopfschmerzen, Schwindel oder Konzentrationsschwierigkeiten haben, melde dich bei deinem Hausarzt oder direkt bei mir. Sie zückt ihre Brieftasche, streckt mir eine Visitenkarte hin.
Auch für den Fall, dass ich dein Rad ersetzen soll. Sie deutet auf mein Vorderrad, das offensichtlich eine Acht hat.
Ines Hübsch steht auf der Visitenkarte. Assistenzärztin Universitäres Notfallzentrum Inselspital. Darunter eine Telefonnummer und eine E-Mail.
Gehört eigentlich nicht zum Job, selbst Notfälle zu produzieren. Ines lächelt und macht dabei ein eher mitleidiges Gesicht.
Passt schon. Sage ich und inspiziere das Fahrrad. Das Schutzblech ist verbeult, der Sattel steht schief, und da ist eben die Acht im Vorderrad. Ines fragt noch, ob sie mich irgendwo hinfahren soll.
Ich melde mich mit der Rechnung, entgegne ich im Halbernst und blicke vorsichtshalber in alle Richtungen, bevor ich humpelnd den Rest der Strasse überquere.
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Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 3 «Endokarp»
((Caro)) Vor mir öffnet sich ein Loch im Boden. Wortwörtlich. Die Erde ist nass. Es riecht nach Moder und frisch geschnittenem Gras. Die ganze Nacht über hat es geregnet, und meine Lederstiefel sind nicht wasserdicht. Einzelne Sonnenstrahlen drängen sich zwischen den Wolken hervor. Sie scheinen auf die Urne, als würden sie sich verabschieden. Wie nett von ihnen. Der Pfarrer trägt ein übergrosses, weisses Leinengewand und sieht damit aus wie ein Bub, der noch nicht in seine Kleidung hineingewachsen ist. Er deutet mit der Hand erst auf mich und dann das Loch. Offenbar ist es Zeit, Urneversenken zu spielen. Dom stützt mich beim Aufstehen. Meine Beine sind Pudding, und so knie mich mehr oder weniger unfreiwillig ins nasse Gras. Ich betrachte das Loch, die aufgehäufte Erde daneben.
Leni war eine liebevolle Ehefrau und Mutter, sagt der Pfarrer. Woher er das wissen will, erschliesst sich mir nicht. Leni war schon lange nicht mehr in der Kirche. Maximal an Weihnachten, Ostern oder an Tagen wie dem heutigen.
Liebe Leni, wir nehmen Abschied von Dir, Du bist nicht mehr da, wo Du warst, aber Du bist überall, wo wir sind. Sagt der Pfarrer, und ich bin mir sicher, dass er diesen Spruch in jeder Grabrede bringt, dass er mit neunzig Prozent seiner Reden copy paste betreibt, ersetzt einfach den Namen des Verstorbenen, der Angehörigen und die Hobbys. Hinter mir stehen Dom, eine von Lenis Cousinen und meine Mutter. Letztere seufzt gut vernehmbar. Ich spüre ihre Ungeduld im Nacken. Zögerlich platziere ich das dunkelblaue, schmucklose Keramikgefäss, das die staubigen Überreste meiner Grossmutter in sich trägt, im Loch. Nicht wirklich gewillt, loszulassen, doch im Unvermögen, etwas anderes zu tun, als was von mir erwartet wird.
Die Leute vom Dorf stehen in einigen Metern Entfernung, als wäre Lenis Asche ansteckend. Ich erkenne Lenis Nachbarn, befreundete Milchbauern. Den Gasthofbetreiber, in einem abgetragenen, schwarzen Anzug, und den ortsansässigen Metzger, der sich für den Anlass extra die wenigen noch vorhandenen Haare über die Glatze gekämmt hat. Der Dorfpolizist hat eine betont strenge Miene aufgesetzt und eine Frau, die ich öfter mit ihrem sehr fetten Mops im Dorf antreffe, sieht dank dem altbackenen Stufenschnitt mit den hellblonden Strähnchen aus wie eine Zeitreisende aus den 1990er Jahren. Ich würde sie gern fragen, wo die Zeitmaschine steht, und ob sie mich einen Monat in der Zeit zurückschicken kann, damit ich mich mit Leni einsperren kann, bis wir geimpft sind, statt total verblödet in die Skiferien zu fahren. Der Pfarrer verliert noch ein paar Worte mehr über Leni und dabei meine Aufmerksamkeit. Meine Schuhe und Socken saugen sich indessen mit Wasser voll. Jeans und Unterhosen sind da einen Schritt weiter und kleben sich wie eine kalte Kompresse an Waden, Oberschenkel und Arsch. Überhaupt fühle ich mich durchweicht. Matschig bis ins Innerste. Und wer weiss, vielleicht fusioniere ich gleich selbst mit dem Boden.
Kim Corti
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