Simon und die Schildkröte ↗
Kurzgeschichte, Blog «Short Friday», 2015
12:00 Uhr. «Wir haben auch Zwergkaninchen», sagte die Verkäuferin und machte mit der Hand eine vage Geste in den hinteren Teil des Geschäfts. Simon schüttelte den Kopf. «Oder wie wäre es mit einem Hamster?», fragte die Frau und lächelte hilflos. «Nein? Rennmäuse vielleicht?» Boris rieb sich die Augen. Er war seit über 24 Stunden wach, sehnte sich nach einem Bett und so viel Distanz wie die Verkäuferin zu ihm wahrte, roch er ziemlich sicher streng. Und Simon? Simon konnte sich einfach nicht entscheiden. «Wie wäre es mit einem Vogel? Einem Papagei?» Langsam schienen der Verkäuferin die Ideen auszugehen. «Fische sind wieder im Trend bei jungen Leuten, seit diesem Kinofilm vor ein paar Jahren.» Simon hörte die Verkäuferin offenbar nicht. Er sah sich im Laden um, als wäre er eben erst reingekommen, entdeckte ein Terrarium, das eine besonders grosse Schildkröte beherbergte und marschierte darauf zu. Simon beobachtete die Schildkröte, die in Zeitlupe an einem Salatblatt kaute. «Die will ich haben», sagte er dann. Boris war mittlerweile alles egal, er hätte Simon auch einen Braunbären gekauft. «Die scheiss Schildkröte willst du haben? Grossartig!» Sagt er und zur Verkäuferin: «Kann man die irgendwie einpacken?»
06:00 Uhr. Boris bemerkte das Verschwinden seines Bruders erst am Morgen. Simon hatte den ganzen Abend ruhig auf dem Sofa gesessen und von einer Sekunde auf die andere war er weg gewesen. Boris suchte das ganze Quartier nach seinem Bruder ab. Er lief durch alle Seitenstrassen, an den Reihenhäusern und Gartenzwergen vorbei, schlich durch Gärten und durchsuchte offenstehende Garagen. Nichts. Boris wurde nervös. Er lief planlos Richtung Bahnhof. Irgendwer hatte kleine, rote Fähnchen mit Schweizerkreuzen in die Hundehaufen am Wegrand gesteckt. Wer würde denn sowas machen? Boris verfluchte die Party und er verfluchte seine Freunde, die Simon mit der Bowle abgefüllt hatten. Wetten hatten sie abgeschlossen, darüber wieviel Simon trinken konnte, bis er a) auf den Teppich kotzen, oder b) singend ums Haus tanzen würde. Boris, der auch von der Bowle getrunken hatte und entsprechend die ganze Nacht über mit sich selbst beschäftigt gewesen war, hatte geglaubt, mit Simon sei alles in Ordnung. Simon war oft allein und selten gesprächig, da schien Boris völlig normal, dass er still und irgendwie verpeilt auf dem Sofa sass.
11:00 Uhr. Boris trat gegen den Zaun am Wegrand. Wenn er sich von den Eltern nur nicht hätte erweichen lassen. Wenn er Simon nur daheim gelassen hätte. Wenn. Boris' Magen meldete sich und verlangte nach Chips oder Salzstangen. Boris überlegte, in der Migros was einzukaufen, da entdeckte er endlich seinen Bruder. Simon stand an einem Fussgängerstreifen und hatte einen Hund an der Leine. Einen gottverdammten Hund. Wer die rechtmässige Besitzerin des Hundes war, musste Boris sich nicht lange fragen. Eine Frau lief laut fluchend auf Simon zu. «Gib mir meinen Hund zurück!» Rief die Frau. «Dein Hund. Mein Hund. Ein Hund», antwortete Simon. «Was soll der Scheiss?» Rief die Frau. «Wir können tauschen. Ich geb dir ein Fähnchen für den Hund.», sagte Simon und kramte ein paar kleine, rote Fähnchen mit Schweizerkreuzen aus seiner Hosentasche. Die Frau stand reglos da. Die Stirn in Falten gelegt und sah aus, als hätte ihr Hirn soeben einen Kurzschluss produziert. Auch Simon stand da, lächelte selig vor sich hin. «Simon, gib ihr den fucking Hund.» Sagte Boris. Simon reagierte nicht. In Gedanken sah Boris, wie sein Bruder auf die Strasse lief, anfing, Passanten zu umarmen, oder sich an Ort und Stelle nackt auszog. Jetzt hätte man eigentlich Wetten abschliessen müssen. «Simon», sagte Boris gequält, «was muss ich tun, damit du der Frau ihren Hund gibst?»
Butter side down ↗
Kurzgeschichte, Blog «Short Friday», 2015
Arielle ↗
Kurzgeschichte, Blog «Short Friday», 2015
Kim Corti
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